Berliner Industriegeschichte
Tauchen Sie ein in die Industriegeschichte einer Metropole, die um 1900 wie keine andere Stadt auf dem europäischen Kontinent für Fortschritt und Aufbruch stand. Der lange „Tiefschlaf“ vieler Industrien nach dem Zweiten Weltkrieg sicherte in Berlin den Fortbestand architektonischer Ikonen, die heute von neuen und jungen Industrien genutzt werden. Zwanzig Kapitel geben einen Überblick von den Anfängen der Stadt bis in die heutige Zeit, in der Berlin an seine Geschichte als Industriemetropole anschließen möchte.
- 1706
Berlins Wasserwege
Ein Blick in die königliche Residenzstadt Berlin 1706: Es herrscht Hochbetrieb auf der Spree. Vor der Silhouette mit Nikolai- und Marienkirche wird mit Holzbarken die Ladung von großen Segelschiffen gelöscht.
Das heutige Berlin geht auf die Schwesterstädte Berlin und Cölln zurück. Gegründet im 13. Jahrhundert, liegen die beiden Städte an einer Furt der Spree. Rasch erhält die Doppelstadt Markt- und Niederlassungsrechte. Die geografische Lage Berlins zwischen Elbe und Oder bietet beste Voraussetzungen für einen Aufstieg zur Handelsstadt. So entsteht bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts das Netz der Märkischen Wasserstraßen – das älteste Wasserstraßennetz Deutschlands. Schnell erblüht ein reger Fernhandel zwischen Berlin und Hamburg mit Getreide und Holz.
Mit dem aufstrebenden Handel wächst auch Berlin. Neben Baumaterialien werden auch Nahrungsmittel benötigt. Ziegel, Kalksteine, Gips und Kohle werden in (Segel-)Kähnen aus Brandenburg und Schlesien geliefert. Salze kommen aus Mitteldeutschland und Getreide von den Seehäfen.
Auch im 19. Jahrhundert bleibt die Binnenschifffahrt ein wichtiger Handelsweg – trotz Erfindung der Dampfmaschine und des Erstarkens der Eisenbahn. Die Infrastruktur an den Berliner Gewässern wird ausgebaut. Neue Kanäle, Hafenbecken und Schleusen entstehen, Industrien siedeln sich am Wasser an. Mit 10,4 Millionen Tonnen Frachtumschlag war Berlin nach Duisburg im Ruhrgebiet die zweitgrößte Binnenhafenstadt Deutschlands. Auch heute noch ist Berlin ein wichtiger Knotenpunkt für Brennstoffe, Baumaterial, Industrie- und Recyclinggüter. Knapp zwei Millionen Tonnen Güter werden hier jährlich umgeschlagen.
Der Historische Hafen Berlin ist ein »Schauplatz der Industriekultur Berlin«, in der historischen Mitte Berlins finden Sie hier eine Ausstellung zur Hafengeschichte und zur Bedeutung der Binnenschifffahrt. Entdecken Sie weitere ausgewählte Orte zum Thema »Transport und Verkehr«.
- 1763
Die Frühindustrialisierung
Im 18. Jahrhundert ist Berlin eine Stadt voller Manufakturen. Besonders stark vertreten ist das Textilgewerbe mit der Verarbeitung von Wolle, Baumwolle oder Seide. 1729 sind 40 Prozent der Berliner Bevölkerung in der Textilindustrie tätig. Einer der größten Wollzeug-Händler Berlins sieht 1751 Potenzial in einem anderen Material: Porzellan. Wilhelm Caspar Wegely bittet Porzellanliebhaber König Friedrich II. daher um das Privileg, eine Porzellan-Manufaktur einzurichten. Der König gewährt ihm die Gründung der Manufaktur. Zusätzlich bestimmt er eine Zollfreiheit für die Materialien und den Ausschluss von Konkurrenten.
Ein Jahrzehnt später übernimmt Friedrich II. das Unternehmen selbst und führt es als Königliche Porzellan Manufaktur (KPM Berlin) weiter. Die KPM agiert als Musterbetrieb mit geregelten Arbeitszeiten, guter Bezahlung, Rente und Krankenkasse. Diese guten Arbeitsbedingungen bleiben lange Zeit eine Ausnahme in der wachsenden Stadt.
In den 1790ern verschlechtert sich die Lage des Berliner Textilgewerbes. Die Webarbeit verlagert sich in ländliche Gebiete, Frauen und Kinder drücken als billige Arbeitskräfte die Löhne. Aus England kommen die ersten günstigen industriell gewebten Stoffe nach Europa. 1793 ist die Hälfte der Personen im Textilsektor ohne Arbeit. Neue Technologien wie die Dampfmaschine kündigen die Industrialisierung und damit neue Beschäftigungen an. Berlin wird von einer Stadt der Manufakturen zu einem Zentrum von Fabriken.
Die Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin besteht noch heute, über 250 Jahre nach Ihrer Gründung. Einst Musterbetrieb der Frühindustrialisierung gilt sie heute als ältester Handwerksbetrieb Berlins. Sie gehört zu den »Schauplätzen der Industriekultur Berlin«. Auf unserer Karte können weitere ausgewählte Orte zum Thema »Produktion damals und heute« entdecken.
- 1821
Die Stadt, die Wissen schafft
Am 1. November 1821 findet die Einweihung des Königlich Technischen Instituts Berlin statt. Es geht aus dem Berliner Gewerbe-Institut hervor, das ein Jahr zuvor unter Leitung von Peter Beuth als Unterrichtsanstalt gegründet worden war. Die Schüler erhalten eine praxisnahe Ausbildung auf Grundlage der Wissenschaften in Mathematik und Maschinenlehre, aber auch in Baukunst, freiem Zeichnen und Holzarbeiten.
Zu diesem Zeitpunkt bietet die Stadt schon einige wissenschaftliche Ausbildungsstätten. Vorbilder für das neue Technische Institut sind die Königliche Bergakademie Berlin (1770) und die Königliche Bauakademie zu Berlin (1799). Dort werden bereits seit einigen Jahrzehnten Fachkräfte für die Berliner Verwaltung ausgebildet. 1810 eröffnet der Gelehrte und Staatsmann Wilhelm von Humboldt die Humboldt-Universität. Sie bringt Forschung und Lehre zusammen und ist so die Blaupause für alle modernen Universitäten. Aus den genannten technischen Lehr- und Forschungseinrichtungen geht 1879 die Königlich Technische Hochschule zu Berlin hervor. Sie ist die Vorgängerin der heutigen Technischen Universität Berlin.
Ganz praktische Lösungen für physikalische Probleme und Definitionen von Maßeinheiten für die aufstrebende Elektroindustrie findet ab 1887 die Physikalisch-Technische Reichsanstalt. Um 1900 gilt das Observatorium der Gründungsväter Werner von Siemens und Hermann von Helmholtz als das modernste physikalische Forschungsgebäude der Welt. Durch Erschütterungsfreiheit, Temperaturkonstanz und minimale elektromagnetische Interferenzen bietet es perfekte Messbedingungen.
Auch heute gehört Berlin zu den größten und vielfältigsten Wissenschaftsregionen in Europa: An elf staatlichen, zwei konfessionellen und rund 30 staatlich anerkannten privaten Hochschulen lehren, forschen, arbeiten und studieren über 250.000 Menschen aus aller Welt. Im Ortsteil Adlershof im Osten der Stadt entsteht beispielsweise seit 1991 eines der größten Wissenschafts- und Technologiecluster in Deutschland: der Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Adlershof (WISTA).
Erkunden Sie weitere ausgewählte Orte zum Thema »Forschung und Innovation« und die Physikalisch-Technische Bundesanstalt.
- 1837
Der Aufstieg zum Eisenbahnzentrum
Der Aufstieg Berlins zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Metropole Ende des 19. Jahrhunderts hängt eng mit dem Aufbau eines leistungsfähigen Eisenbahnnetzes zusammen. Schon 1833 fordert Nationalökonom Friedrich List den Aufbau eines allgemeinen Eisenbahnnetzes über die einzelnen deutschen Kleinstaaten hinweg. Bereits in seinen ersten Skizzen bildete Berlin dabei einen wichtigen Eisenbahnknoten.
1837 gründet sich die Berlin-Potsdamer Eisenbahngesellschaft und baut in 15 Monaten die eingleisige Strecke zwischen den Residenzstädten Berlin und Potsdam – mit 26 km Streckenlänge. Der Berliner Bahnhof liegt vor den Toren der Stadt am heutigen Potsdamer Platz. Die ersten Lokomotiven, die auf den Berliner Strecken unterwegs sind, stammen noch aus dem Mutterland der Eisenbahn – England. Zeitgleich gründet Anton Borsig seine eigene Gießerei- und Maschinenbauanstalt im Berliner „Feuerland“ vor dem Oranienburger Tor. Dort werden zunächst Dampflokomotiven repariert, ab 1840 auch gebaut.
1841 erhält Berlin mit der Berlin-Anhalter Eisenbahn seine erste Fernverbindung. In kurzer Folge entstehen weitere Strecken nach Frankfurt Oder, Stettin und Hamburg. Ein Eisenbahn-“knoten“ ist Berlin aber erst ab 1851. In diesem Jahr wir die Verbindungsbahn in Betrieb genommen, welche die vor den Toren der Stadt liegenden Kopfbahnhöfe miteinander verknüpft.
Auf dem Areal des ehemaligen Anhalter Güterbahnhofs befindet sich heute das Deutsche Technikmuseum. Die historischen Gleisanlagen prägen den Museumspark. Im Lokschuppen hat die Eisenbahnausstellung ihren Platz. Das Deutsche Technikmuseum ist ein »Schauplatz der Industriekultur Berlin«. Entdecken Sie weitere ausgewählte Orte zum Thema »Transport und Verkehr«.
Weiter zum Jahr 1847 · Die frühen Pioniere der Elektroindustrie
- 1847
Die frühen Pioniere der Elektroindustrie
Die deutsche Reichshauptstadt ist in vielen Industriezweigen führend – zu ihrer großen Besonderheit entwickeln sich jedoch ab den 1880ern die Elektrizitätswirtschaft und die Elektroindustrie. Auch die öffentliche Infrastruktur Berlins wird weltweit zum Vorbild. Die „Elektropolis Berlin“ gilt vor dem Ersten Weltkrieg als Synonym für die moderne, vernetzte Stadt.
Einen Grundstein für die Elektropolis legen 1847 Werner Siemens und Johann Georg Halske. Sie gründen unweit des gerade eröffneten Anhalter Bahnhofs die „Telegraphen-Bauanstalt Siemens & Halske“. Die neue Nachrichtentechnik und der Ausbau der Eisenbahn sind eng verknüpft. Telegrafenlinien entlang des Eisenbahnnetzes übermitteln Informationen über Störungen sowie Abfahrt und Ankunft der Züge. Siemens & Halske ist schnell international erfolgreich und tüftelt an Erfindungen. 1867 sichert sich Werner Siemens das Patent für eine elektromagnetische Dynamomaschine. Dieser Stromerzeuger ist leistungsstark und kostengünstig. Elektrische Energie kann fortan nicht nur kurze Signale per Telegrafie senden, sondern ganze Städte beleuchten oder sogar Fahrzeuge antreiben.
1879 ist die Siemens-Villa in Charlottenburg das erste elektrisch beleuchtete Privathaus in Deutschland. Einige Wochen später präsentiert die Firma auf der Berliner Gewerbeausstellung einen kleinen Personen-Zug – ohne Kohle, Dampf und Rauch. Zwei Jahre später eröffnet Siemens & Halske die erste elektrische Straßenbahnlinie der Welt in Lichterfelde bei Berlin. In den folgenden Jahrzehnten entwickelt sich die Elektroindustrie zum bedeutendsten Industriezweig Berlins.
Die Entwicklung der Stadt zu einem Zentrum der Elektroindustrie liegt nicht nur in den Händen innovativer Firmen. Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler, Ingenieure, Architekten, Banker und Finanziers sind gut miteinander vernetzt. Dieses besondere Milieu, ausgestattet mit ausgezeichneten internationalen Verbindungen, erweist sich als fruchtbarer Nährboden für technische und gesellschaftliche Innovationen.
Ein Nachbau des kleinen Personen-Zuges, den Siemens 1879 zur Berliner Gewerbeausstellung präsentierte, ist im Deutschen Technikmuseum zu besichtigen. Im Energie-Museum Berlin und im Industriesalon Schöneweide finden Sie vertiefende Informationen zu Berlins Weg zur Elektroplis. Alle drei Museen gehören zu den »Schauplätzen der Industriekultur Berlin« und zu den ausgewählten Orten zum Thema »Strom und Energie«.
- 1870
Aufstieg zum Wirtschaftszentrum
Den Banken kommt eine wichtige Rolle bei der Entwicklung Berlins zur Industriemetropole zu. Sie finanzieren sowohl den Bau von Firmensitzen, als auch von Fabriken und Industriekomplexen. Eine der frühesten Investoren ist die Berliner Handels-Gesellschaft, gegründet 1856. Als „Hausbank“ finanziert sie beispielsweise Vorhaben von Emil Rathenau rund um die Gründung und den Ausbau der AEG.
Parallel zur erstarkenden Berliner Wirtschaft wächst die Bedeutung der Stadt als Handels- und Finanzplatz, auch die seit dem 18. Jahrhundert bestehende Börse floriert. Eine Reihe von Privatbankiers zeigt sich außerdem neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen. Treibende Kräfte sind Adelbert Delbrück und Ludwig Bamberger. Sie gründen 1870 in Berlin die Deutsche Bank. Die Gründer beweisen Weitblick, denn sie wählen noch vor der Entstehung eines deutschen Nationalstaats den Namen „Deutsche Bank“. Insbesondere für internationale Geschäfte steht nun auch eine „deutsche“ Bank zur Verfügung. Die Gründungsväter bauen internationale Beziehungen sowie Außenstellen auf, um den deutschen Außenhandel von englischen Geldinstituten unabhängig zu machen.
Mit der Reichsgründung 1871 zieht Berlin als neue Hauptstadt mit der ehemaligen Finanzmetropole Frankfurt am Main gleich. Einige Bankhäuser siedeln an die Spree um, während bereits bestehende Finanzinstitute ausgebaut werden. Es folgen kurze Jahre des Wachstums bis zur Gründerkrise 1873. In den 1880er-Jahren etabliert sich schließlich das Berliner Bankenviertel mit der Deutschen Bank, der Dresdner Bank und der Nationalbank für Deutschland. Der Finanzplatz Berlin entwickelt weitere internationale Strahlkraft. Eine Zäsur erfährt die Entwicklung durch die Weltwirtschaftskrise 1929. Die Enteignung der jüdischen Banker und Bankhäuser, der Zweite Weltkrieg sowie die Neuorientierung des im Ostteil Berlins gelegenen Bankenviertels lassen dieses weitgehend an Bedeutung verlieren.
Eine erstaunliche Kontinuität als Bank weist das Gebäude der Berliner Handels-Gesellschaft auf. Es ist zwischen 1949 und 1989 Sitz der Staats- und Außenhandelsbank der DDR und beheimatet inzwischen die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW).
Unsere Karte verzeichnet weitere ausgewählte Orte zum Thema »Zentralen der Macht«.
- 1878
Die Sozialisierung der Arbeitswelt
Kranken- und Rentenversicherung, Kündigungsschutz sowie Gesetze zum Schutz vor Kinderarbeit sind heute selbstverständlich. Vor 170 Jahren hingegen sind sie Ausnahmen. Dass es sie heute gibt, ist in letzter Konsequenz eine Folge der Industriellen Revolution. Nicht nur in der Wirtschaft, sondern in allen Lebensbereichen werden tiefgreifende Veränderungen angestoßen.
Auf der Suche nach Arbeit zieht es die Menschen in die Städte und die dortigen Fabriken. Die Arbeitsbedingungen sind jedoch unvorstellbar: Zwölf Stunden oder länger tätigen Arbeiterinnen und Arbeiter dieselben Handgriffe. Sie arbeiten in lauten, staubigen, überfüllten Hallen meist mit wenig Tageslicht. Es gibt keine Arbeitsschutzmaßnahmen, Unfälle sind dadurch an der Tagesordnung. Nur wer arbeitet, bekommt auch Lohn. Die Fabriken schaffen Arbeitsplätze, verdrängen aber gleichzeitig auch kleine Handwerksbetriebe. Die Löhne sind niedrig. Um die Familie zu ernähren, arbeiten nicht nur die Männer, sondern auch Frauen und Kinder. Sie verdienen allerdings nicht annähernd den Lohn der Männer – bei gleicher Arbeit. Die Mieten in den schnell hochgezogenen Arbeiterwohnungen sind hoch, die Ein- oder Zwei-Zimmerwohnungen eng und dazu feucht.
In Berlin wird 1878 auf Druck der Arbeiterbewegung schließlich die Gewerbeordnung geändert. Zunächst wird dadurch Kindern unter 12 Jahren die Arbeit verboten. 1883 folgt dann ein Gesetz zur Arbeiter-Pflichtversicherung. Hier zahlen Arbeitnehmer (2/3) und Arbeitgeber (1/3) anteilig in eine Krankenversicherung ein. Sie sichert auch ein Sterbegeld für die Hinterbliebenen. 1884 folgt ein Unfallversicherungsgesetz, Berufsgenossenschaften sind fortan für den Arbeitsschutz zuständig. Abschließend werden 1889 Rentenversicherung und Invalidenrente beschlossen. Der Wandel zur Industriegesellschaft wird durch die neuen Gesetze abermals beschleunigt. Die Arbeitsbedingungen bleiben dennoch für viele prekär.
Zeugnisse aus dieser Zeit finden sich beispielsweise bei einem Besuch in der KulturBrauerei in Prenzlauer Berg. An den Backsteinfassaden ist noch heute ersichtlich, wie der Betrieb um 1900 organisiert ist: „Futterboden“ und „Ställe“, „Bahnladehalle“ und „Flaschenbier-Abteilung“ prangt dort in großen Lettern. Aber auch: „Invaliden-Werkstatt“ und „Kinderheim“. Ende des 19. Jahrhunderts erweist sich der Brauereibesitzer Richard Roesicke als Unternehmer mit einer fortschrittlichen sozialen Gesinnung. Seine Arbeiterinnen und Arbeiter profitieren u. a. von einem Arbeiterausschuss, Kinder- und Invalideneinrichtungen, einer Pensionskasse sowie vergünstigtem Kantinenessen.
- 1882
Elektropolis Berlin
1882: Die ersten Laternen mit elektrischen Kohlebogenlampen erhellen den Potsdamer Platz. Sie sind heller als alles, was die Passanten je zuvor gesehen haben. Straßenbeleuchtung gibt es in Berlin schon seit 1678. Die eingesetzten Öllampen sind über 150 Jahre der Standard auf Berliner Straßen. 1826 erleuchten erstmals Gaslaternen die Straße Unter den Linden. Mit ihnen entstehen auch Gaswerke und Gasometer zur Speicherung des Stadtgases. In Innenräumen sind Gaslampen allerdings gefährlich. Sie entziehen ihrer Umgebung viel Sauerstoff und werden außerdem sehr heiß.
1881 führt Thomas Alva Edison in Paris neuartige elektrische Glühlampen vor. Der Berliner Emil Rathenau erkennt das Potenzial und sichert sich die Rechte am Patent für Deutschland. Zwei Jahre später gründet er die „Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität“ und stellt Glühbirnen nach dem amerikanischen Vorbild her. 1887 wird sie schließlich in „Allgemeine Elektricitäts Gesellschaft“, kurz AEG umbenannt und steigt nachfolgend zu einem Weltkonzern auf.
Elektrisches Licht erhellt zunehmend die Straßen und beispielsweise auch Operationssäle in den Krankenhäusern. Es verbreitet sich in Cafés, Theatern und den aufkommenden Kinos. Nachdem die wichtigsten Akteure Berlins von den Vorzügen der Elektrizität überzeugt sind, wird die öffentliche Stromversorgung zu einem flächendeckenden Phänomen. Innerhalb weniger Jahrzehnte werden die Berliner Privathaushalte an das elektrische Versorgungsnetz angeschlossen: 1914 sind es 5 %, 1925 bereits 25 % und 1938 schließlich 92 %.
Als die Elektrizität in den Privathaushalten ankommt, ist sie schon längst Motor der Zweiten Industriellen Revolution und Auslöser erneuter tiefgreifender Veränderungen in allen Arbeits- und Lebensbereichen. In den Fabriken lösen Elektromotoren beispielsweise nach und nach die Dampfmaschinen ab. Mit der ersten elektrischen Straßenbahn der Welt beginnt 1881 in Berlin außerdem die Elektrifizierung des Verkehrs. Im gleichen Jahr wird ebenfalls in Berlin der erste „Fernsprechkiosk“ in Betrieb genommen. Die Elektrizität legt die Grundlagen für neue Kommunikationsmedien.
In der Stadt entstehen Kraftwerke und Fabriken, die produzieren, was zur Stromerzeugung und -nutzung benötigt wird, wie beispielsweise Kabel- und Transformatorenwerke. Der Platz für neue Fabriken und auch Wohnraum für die zuziehenden Arbeiter:innen wird knapp. Bis dahin wenig beachtete Vororte bieten hingegen genügend Platz und geringere Kosten.
Gute Verkehrsanbindungen, etwa über die Wasserwege oder die neuen Eisenbahnlinien begünstigen dabei die Ansiedlung neuer Unternehmen. Siemens verlagert die Produktion nach Spandau. Hier erwächst aus neuen Werken und Arbeitersiedlungen ein eigener Stadtteil, die Siemensstadt. Südöstlich von Berlin siedelt sich ab 1897 die AEG in Schöneweide an. Gerade einmal 159 Personen leben zu dieser Zeit im Ort. 1910 sind es bereits über 21.000. Sie wohnen und arbeiten an einem der größten Standorte der Elektroindustrie Europas.
Im Museum Kesselhaus Herzberge sind die Dampfkessel erhalten, mit denen ab 1892 Wärme und Strom für das Krankenhaus produziert wurden. Im Energie-Museum Berlin und im Industriesalon Schöneweide finden Sie vertiefende Informationen über Berlins Weg zur Elektroplis. Die drei Museen gehören zu den »Schauplätzen der Industriekultur Berlin« und zu den ausgewählten Orten zum Thema »Strom und Energie«. Im Stadtgeschichtlichen Museum Spandau wird die Entwicklung der industriellen Entwicklung des Bezirks nachgezeichnet.
Weiter zum Jahr 1893 · Sauberes Wasser für Berlin
- 1893
Sauberes Wasser für Berlin
Mitte des 19. Jahrhunderts kippen fast eine Million Berlinerinnen und Berliner ihr Abwasser auf die Straßen. Die Stadt stinkt zum Himmel. Immer wieder kommt es zu Seuchenausbrüchen durch Viren und Bakterien. Mit der Industrialisierung wächst die Stadt und dadurch auch der Bedarf an sauberem Wasser. König Friedrich Wilhelm IV. lässt bereits 1856 mit Hilfe englischer Bauingenieure ein erstes Wasserwerk am Stralauer Tor bauen. Der Beginn der zentralen Berliner Wasserversorgung sorgt zwar für gespülte Rinnsteine, aber der Dreck fließt weiterhin direkt in die Spree.
Stadtplaner und Baurat James Hobrecht entwirft bis 1872 ein Abwassersystem für die Stadt. Hobrecht teilt Berlin in zwölf unabhängige Radialsysteme auf. Dabei werden Kanäle mit Gefälle angelegt und sammeln das Wasser an den tiefsten Stellen der Stadt, von dort aus wird es an den Stadtrand gepumpt. Das Abwasser wird auf Flächen vor der Stadt „verrieselt“. Dabei wird es durch Steine und Erdschichten gereinigt. Auf den sogenannten „Rieselfeldern“ wird Viehfutter und Gemüse angebaut, das durchaus einen kräftigen Geruch verströmt.
Neben der Frisch- und Abwasserversorgung nimmt jedoch auch die Berliner Bädergeschichte ab 1877 Fahrt auf. Bereits seit den 1850er Jahren gibt es in der Auguststraße und in der Schillerstraße zwei Bäder nach englischem Vorbild. Da die Bevölkerung die bestehenden Bäder als Ort für Körperhygiene nicht annimmt, gründet sich Ende der 1880er Jahre der Berliner Verein für Volksbäder. Weitere Badeanstalten entstehen. Sie bestehen aus Wannen- und Brausebädern und dienen ausschließlich der Reinigung.
Um 1900 erkennt die Berliner Politik, dass es ihre Aufgabe ist Voraussetzungen für körperliche Ertüchtigung und Hygiene der Bevölkerung zu schaffen. Zentral gelegene Stadtbäder wie das Stadtbad Oderberger Straße entstehen. Das 1912-1914 erbaute Stadtbad Neukölln bietet getrennte Becken für Männer und Frauen. Denn Geschlechter-gemischtes Baden ist erst nach den 1920er Jahren denkbar.
Einige der alten Berliner Wasserwerke wie das Wasserwerk am Teufelssee und das Alte Wasserwerk Friedrichshagen sind inzwischen mit Führungen besuchbar. Beide Standorte gehören zu den »Schauplätzen der Industriekultur Berlin«. Auch die Stadtbäder Neukölln und Oderberger Straße sind restauriert und für den Publikumsverkehr wieder geöffnet. Diese und weitere ausgewählte Orte finden Sie in unserer Übersicht zum Thema »Sauber und Gesund«.
- 1902
Die Entstehung des modernen Nahverkehrs
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts werden die Menschen immer mobiler, der Mythos der rastlosen Großstadt entsteht. Im Umfeld der Bahnhöfe ist die Luft geschwängert von Dampf und dem Geruch verbrannter Kohle. Hunderte Dampflokomotiven bringen im Minutentakt Fern- und Nahverkehrszüge von und nach Berlin. Ende der 1870er-Jahre sind die Kopfbahnhöfe der Fernbahnstrecken durch die Ringbahn miteinander verbunden. Die Berliner Stadtbahn schafft außerdem eine schnelle Verbindung durch die Stadt. Auf den Straßen Berlins dominiert aber immer noch der 1 Pferdestärken (PS) „Hafermotor“. 1847 wird die erste von Pferden gezogene Omnibus-Linie in Berlin etabliert. Ab 1865 rollen auch die ersten von Pferden gezogenen Straßenbahnen durch die Stadt.
Eine wirkliche Revolution des Nahverkehrs bahnt sich jedoch erst 1879 an. Auf der Berliner Gewerbeausstellung präsentiert Werner von Siemens eine elektrische Lokomotive. Zwei Jahre später rollt bereits die erste elektrische Straßenbahn der Welt durch Lichterfelde, und kurz darauf durch ganz Berlin. Der letzte Berliner Pferdebahnwagen fährt schließlich 1902 aufs Abstellgleis.
Aber auch die elektrische Straßenbahn kann dem Mobilitätsdrang der Berliner Bevölkerung nicht gerecht werden. Neue Transportmöglichkeiten werden benötigt. In einem Wettbewerb reicht die AEG 1895 daher das Konzept einer Röhrenbahn unter der Erde ein und führt ihren Versuchstunnel am Humboldthain vor. Konkurrent Siemens plädiert stattdessen für eine Bahn auf Stelzen über der Straße und gewinnt. Die erste Linie eröffnet schließlich 1902. Mit Strecken ober und unter der Erde ist es die Geburtsstunde der Berliner U-Bahn, die inzwischen die ganze Stadt durchzieht.
Die Elektrifizierung der Stadt-, Ring- und Vorortbahnen erfolgt ab 1924. Im Jahr 1930 wird für die neuen, schnellen Bahnen Berlins die Marke „S-Bahn“ geprägt. Damit verschwinden nach den Pferdewagen schließlich auch die Dampflokomotiven aus dem Nahverkehr.
Übrigens: Auch die Berliner Post und die Feuerwehr setzen um 1900 auf Elektromobilität. Nach dem Zweiten Weltkrieg geraten Postwagen, Löschzug und Omnibus mit Elektroantrieb jedoch in Vergessenheit.
Besuchen Sie weitere ausgewählte Orte zum Thema »Transport und Verkehr« auf unserer Karte oder machen Sie einen Ausflug zu den »Schauplätzen der Industriekultur Berlin«: U-Bahn Museum Berlin, AEG-Tunnel oder ins Deutsche Technikmuseum. Historische Straßenbahnen und Busse können Sie an Aktionstagen beim Denkmalpflegeverein Nachverkehr oder mit Traditionsbus Berlin erleben.
- 1909
Wiege der Luftfahrt
Lilienthal, Wright und Zeppelin: In Berlin versammeln sich schon früh die Pioniere der Luftfahrt. 1894 stürzt sich Otto Lilienthal in Lichterfelde von seinem eigens angelegten Fliegerberg, eher ein Hügel mit 15 Metern Höhe. Als erster Flieger der Menschheit erprobt er seine über 21 Flugapparate, bis 1896 einer seiner Flug-Versuche im brandenburgischen Stölln schließlich tödlich endet.
13 Jahre später, im Herbst 1909, überschlagen sich dann die Ereignisse: Zunächst steht das Tempelhofer Feld im Zentrum der Luftfahrtpioniere. Die Gebrüder Wright führen 1909 ihren Wright-Flyer, eines der ersten motorisierten Flugzeuge, vor. Wenige Tage zuvor landet das Verkehrsluftschiff Zeppelin LZ6, nachdem es den ersten Langstreckenflug vom Bodensee in die Reichshauptstadt gemeistert hat.
Einige Kilometer östlich eröffnet im September der Flugplatz Johannisthal. Er ist der erste unternehmerisch geführte Flugplatz im Deutschen Reich. Berlin wird zur Wiege der Luftfahrt. Immer mehr Firmen konzentrieren sich auf die Entwicklung der frühen Flugzeuge, darunter die Albatros-Werke in Johannisthal und die Argus-Motoren-Gesellschaft in Reinickendorf.
Am Flugplatz gründet sich später die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt, die als zentrale Forschungseinrichtung für Luftfahrt agiert. Die Nationalsozialisten investieren in die kriegswichtige Luftfahrtentwicklung. Das angrenzende Adlershof wird zum Forschungszentrum mit Motorenprüfständen, Windkanal und Trudelturm.
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- 1914
Der industrialisierte Krieg
1914 bis 1918: Der Erste Weltkrieg tobt. Berliner Unternehmen wie die C. Lorenz AG stellen auf Rüstungsproduktion um, denn dieser Krieg ist geprägt von Materialschlachten. Maschinengewehre, Flugzeuge und Giftgas zeugen von einer industrialisierten Kriegsführung, die nicht nur bei Menschen, sondern auch in der Landschaft der Kriegsschauplätze tiefe Spuren hinterlässt.
Während Männer als Soldaten an die Front ziehen, übernehmen Frauen und Jugendliche ihre Arbeit in den Fabriken und Verwaltungen. Rationalisierung von Lebensmitteln, Seife und Rohstoffen verstärkt zusätzlich die Not der Menschen. Berliner Volksküchen geben täglich 170.000 Liter Suppe aus. Weder die Volksküchen noch Industriebäckereien wie die Brotfabrik Wittler können die Bevölkerung ausreichend versorgen.
In Berlin wächst jedoch nicht nur die Rüstungsproduktion, zu einem bedeutenden Zentrum für Kriegswirtschaft und Industrie heran, sondern auch die Opposition. Menschen wehren sich zunehmend gegen Zensur und Verhaftungen, fordern „Frieden – Freiheit – Brot“. Meist jedoch ohne Erfolg. Streiks in den Fabriken wie beim Januarstreik 1918 werden mit Polizei- und Militärgewalt niedergeschlagen.
Im November 1918 gründet sich eine neue demokratische Regierung, die Weimarer Republik entsteht. Mit dem Versailler Vertrag wird schließlich die Kapitulation des Deutschen Reichs besiegelt. Im Vertrag sind die Reparationen, also Zahlungen an die Gewinner des Krieges geregelt. Außerdem legt der Vertrag den Deutschen ein Rüstungsverbot auf. Der Betrieb oder Bau von Flugzeugen ist beispielsweise bis 1926 stark eingeschränkt. Firmen, die zuvor in der Luftfahrt oder Rüstungsindustrie tätig sind, suchen sich nun neue Produktionszweige. Flugzeughersteller wie BMW stellen beispielsweise ihre Produktion und Entwicklung auf Automobile um.
Mit Ende der Kriegsproduktion steigt die Zahl der Erwerbslosen. Ebenso wie die ausgezehrte Bevölkerung erholen sich Wirtschaft und Industrie nur langsam. Neue Perspektiven verspricht der Zusammenschluss zu Groß-Berlin 1920. Zu Alt-Berlin mit seinen 1.9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern kommen dadurch weitere 1.9 Millionen hinzu. Nach London und New York ist Berlin damit zu dieser Zeit die drittgrößte Stadt der Welt.
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- 1920
Erste Worte aus dem Äther
„Hallo, hallo, hier Königs Wusterhausen auf Welle 2.700“. Das sind die ersten Worte, die am 22. Dezember 1920 mittels Funkwelle nach Berlin gesendet werden. Die Berliner Radiogeschichte beginnt südöstlich der Stadt im brandenburgischen Königs Wusterhausen. Nach monatelangen Experimenten gelingt Angestellten der Reichspost schließlich ein absoluter Coup. Normalerweise übermitteln sie vom Funkerberg Königs Wusterhausen aus telegraphische Börsennachrichten. Jetzt senden sie jedoch einen mündlichen Weihnachtsgruß, gefolgt von „Stille Nacht, Heilige Nacht“ gespielt von den Beamten selbst.
Es ist die erste Liveübertragung von Sprache und Musik überhaupt. Die ersten Funkwellen sendeten 1897 Adolf Slaby und Georg Graf von Arco vom Glockenturm der Sacrower Heilandskirche in Potsdam. Diese Technik nutzen bis zum ersten „Hallo, hallo“ 1920 vor allem das Militär, aber auch die Reichspost und die Börsennachrichten.
Aus den Experimenten werden schnell professionelle Großprojekte. Den Entscheidungsträgern in Berlin ist klar: Das Radio ist das Medium der Zukunft. Pünktlich zur 3. Internationalen Funkausstellung 1926 wird der knapp 150 Meter hohe Funkturm errichtet. Er sendet überregional. Für die Aufnahme und Produktion von Inhalten entwirft Architekt Hans Poelzig 1929 das Haus des Rundfunks an der Masurenallee.
Die technische Entwicklung des Rundfunks begründet eine Informations- und Kommunikationsrevolution. Nachrichten und Musik werden ebenso gesendet wie Anleitungen zur Leibesertüchtigung sowie Geschichten für Kinder. In guten wie in schlechten Zeiten übermittelt das Radio fortan in Echtzeit Informationen und beschleunigt damit sowohl Leben als auch den Alltag in der Stadt. Das neue Medium Radio wird allerdings bald auch für Propagandazwecke genutzt.
Entdecken Sie weitere ausgewählte Orte zum Thema »Kommunikation und Medien« sowie zu den »Schauplätzen der Industriekultur Berlin« Haus des Rundfunks des rbb und Museum für Kommunikation.
- 1925
Eine Stadt für die Zukunft
1925 hat Berlin vier Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Nachdem die Folgen des Ersten Weltkrieges überwunden sind, wird die Stadt zu einem Ort, an dem Literatur-, Musik- und Kunstgeschichte geschrieben wird. Das Leben im ersten demokratischen Deutschland wird freier und die Kunst beschreitet eigene Wege. Die künstlerische Bohème und Vergnügungspaläste wie das Haus Vaterland prägen die Goldenen Zwanziger Jahre und die bunten Leuchtreklamen das Bild der Stadt.
Voraussetzung für diese Entwicklungen ist die Erweiterung Berlins zu Groß-Berlin am 1. Oktober 1920. Durch die Eingemeindung umliegender Städte und Kreise wie Charlottenburg und Spandau, aber auch Teltow und Cöpenick wird Berlin über Nacht zu einer Weltmetropole und zur drittgrößten Stadt der Welt. Insgesamt setzt der Zusammenschluss neue Energien frei, die sich im zersplitterten Großraum Berlin zuvor nicht entfalten konnten. Insbesondere im Wohnungs- und Städtebau, aber auch im Verkehrswesen entstehen Leuchtturmprojekte.
Mit der zur Groß-Siedlung Britz gehörenden Hufeisensiedlung und der Großsiedlung Siemensstadt entstehen zukunftsweisende Wohnsiedlungen und Gartenstädte. Sie gehören zu den sechs Siedlungen der Moderne, die zwischen 1913 und 1934 entstehen. Hochrangige Architekten wie Bruno Taut, Hans Scharoun und Walter Gropius reagieren damit auf die Wohnungsnot nach Kriegsende in der beständig wachsenden Stadt: Licht und Luft, weg von den muffigen Mietskasernen mit mehreren Hinterhöfen. Moderne und trotzdem bezahlbare Wohnungen mit Küchen, Bädern und Balkonen, umgeben von Grünflächen. Die Berliner Siedlungen und Gartenstädte sind so zukunftsweisend, dass einige von ihnen heute zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen.
Der Ausbau des Verkehrsflughafens Berlin Tempelhof wird 1924 vom Berliner Magistrat und dem Deutschen Reich gemeinsam beschlossen und durchgeführt. Die Förderung von Energie- und Verkehrsinfrastruktur festigt das Bild Berlins als Metropole – nach innen wie außen. Unternehmen wie die Elektrizitätsgesellschaft BEWAG (1923), die Deutsche Reichsbahn (1924), die Deutsche Lufthansa (1926) und die Berliner Verkehrsbetriebe (1928) gründen sich in den 1920ern.
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- 1939
Die Rüstungsindustrie in Berlin
In den 1930er-Jahren ist die Wohnungsnot groß und die Arbeitslosigkeit hoch. Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik fokussiert sich daher im ganzen Reich auf umfangreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Ab 1934 schafft die Rüstungsindustrie neue Arbeitsplätze und stärkt damit auch die Wirtschaft in Berlin.
Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 wird Berlin wichtigster Produktionsstandort der Rüstungsindustrie. 1943 wird jeder zehnte Flugzeugmotor, jeder vierte Panzer und fast die Hälfte aller Geschütze hier hergestellt – vor allem durch zwangsverpflichtete Jüdinnen, verschleppte Zivilarbeiter, Kriegsgefangene oder KZ-Häftlinge. Während des Krieges werden in der Reichshauptstadt Berlin über 500.000 Menschen durch Zwangsarbeit ausgebeutet, das entspricht etwa 20 Prozent aller Beschäftigten.
Die Menschen aus ganz Europa leben in mehr als 3000 Lagern über die gesamte Stadt verteilt. Jedes Lager fasst zwischen 100 und 200 Personen. Die Generalbaudirektion unter Albert Speer verwaltet sowohl Bau als auch Betrieb. Anders als die meisten Vernichtungslager liegen die Zwangsarbeiterunterkünfte direkt vor den Fenstern der deutschen Bevölkerung, mitten in Wohngebieten. Auf ihren täglichen, teils langen Arbeitswegen durch die Stadtbezirke sind die Fremden ebenso unübersehbar wie in den Fabriken. Vor allem die metallverarbeitende Industrie, beispielsweise Siemens und AEG, aber auch mittelständische Unternehmen profitieren von den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern.
Das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit erinnert an diese Menschen. Es ist ein »Schauplatz der Industriekultur Berlin« und Ankerpunkt der Europäischen Route der Industriekultur (ERIH). Unsere Karte verzeichnet weitere ausgewählte Orte zum Thema »Krieg und Frieden«.
- 1945
Die Insel West-Berlin
Berlin wird 1945 von den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs in vier Sektoren aufgeteilt. Fehlende Souveränität und die Demontage von Industrieanlagen durch die Alliierten erschweren die Regeneration der Industrie nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die USA, Frankreich und Großbritannien wollen ihren Einflussbereich in Berlin sichern sowie eine Vereinnahmung West-Berlins durch die Sowjetunion verhindern. Die Lage unmittelbar zwischen den Fronten des Kalten Krieges lassen den Westen der Stadt weiter an Attraktivität als Industriestandort verlieren. So ist vor allem die Entwicklung und Fertigung zukunftsweisender Technologien wie zum Beispiel der Radartechnik untersagt.
Die Bundesrepublik Deutschland versucht durch staatliche Hilfen eine industrielle Krise West-Berlins abzufangen. Doch trotz hoher Subventionen verlagern immer mehr Unternehmen ihren Sitz nach Westdeutschland und bauen hier auch neue Produktionen auf. Als verlängerte Werkbank verbleiben in West-Berlin nur Fertigungen mit wenig Zukunftspotenzial. Die Folge ist eine sukzessive Deindustrialisierung West-Berlins
Auch auf die Infrastruktur wirkt sich die Teilung der Stadt aus. Ohne Anschluss an das Netz im Umland ist West-Berlin praktisch eine „Strominsel“. Während der Berlin-Blockade 1948 müssen die Kohlen für die Kraftwerke sogar über die Luftbrücke eingeflogen werden.
Zu den Ausnahmen und wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten gehört das BMW Group Werk in Spandau. Die Endmontage der Krafträder zieht in den 1960er-Jahren von München nach West-Berlin, da in den Münchner Werken aufgrund der großen Nachfrage nach PKW die Kapazitäten knapp werden.
Das Energie-Museum Berlin vermittelt die Geschichte der Strominsel West-Berlin. Es ist, wie auch das BMW-Motorradwerk ein »Schauplatz der Industriekultur Berlin«. Auf unserer Karte sind weitere Orte zum Thema »Produktion damals und heute« zu entdecken.
Weiter zum Jahr 1952 · Repräsentieren und Produzieren in Ost-Berlin
- 1952
Repräsentieren und Produzieren in Ost-Berlin
Nach der Gründung der DDR 1949 werden die meisten Industriebetriebe in Ost-Berlin zwangsweise in Volkseigene Betriebe (VEB) umgewandelt. So wird das Kabelwerk Oberspree (KWO) der AEG zum VEB KWO und bildet mit anderen VEBs die Grundlage der sozialistischen Volkswirtschaft.
Planwirtschaft, hohe Reparationszahlungen und schwerfällige Produktionsstrukturen schwächen die Industrie. Zwar bleibt Ost-Berlin mit dem Maschinenbau sowie der Chemie- und Elektroindustrie ein wichtiger Industriestandort. Doch der geografische Fokus verlagert sich in den Süden der DDR. Die Energiegewinnung aus heimischer Braunkohle ist wichtig, um unabhängig von Importen zu sein.
Die Hauptstadt der DDR fokussiert sich auf Repräsentanz. Der zentrale Alexanderplatz wird in den 1960er-Jahren grundlegend umgestaltet. Ein betriebsamer Kreisverkehr wandelt sich in einen Stadtplatz mit Fußgängerzone, Hotel und Kaufhaus. Die Planungen für ein repräsentatives Hochhaus verwirft die Regierung zugunsten eines prägenden Bauwerks für die Silhouette der Stadt. Pünktlich zum 20. Jahrestag der Staatsgründung 1969 nimmt der 365 Meter hohe Berliner Fernsehturm seinen Sendebetrieb auf. Die Kugelform ist eine architektonische Sensation und technische Meisterleistung. Gebildet aus 120 Edelstahlsegmenten, deren Oberfläche aus abgeflachten Pyramiden besteht, reflektiert sie die Sonne wie ein Diamant und verhindert Luftverwirbelungen. Ein Band gebogener Fensterscheiben bietet Besucherinnen und Besuchern einen Rundumblick auf Berlin.
Auf unserer Karte finden Sie weitere ausgewählte Orte zum Thema »Produktion damals und heute«. Der Industriesalon Schöneweide, ein »Schauplatz der Industriekultur Berlin« bietet Führungen durch Oberschöneweide an, dem einstmals größten innerstädtischen Industriegebiet der DDR.
- 1990
Ein Magnet für junge Kreative
Während in West-Berlin aufgrund des Sonderstatus die Investitionen ausbleiben, fehlt im Osten wegen der sozialistischen Mangelwirtschaft das Kapital für grundlegende Modernisierungen. Dementsprechend sind in der Stadt viele Spuren und Zeugnisse der industriellen Entwicklung heute noch in einer weltweit einzigartigen Qualität und Dichte erhalten. Das Erbe der Elektropolis ist dabei Chance und Herausforderung zugleich.
Mit dem Fall der Mauer und der nachfolgenden Wiedervereinigung Deutschlands 1990 setzt ein rapider Strukturwandel ein, der vor allem die Betriebe im Osten der Stadt hart trifft. Die Zahl der Beschäftigten in der Berliner Industrie fällt von 378.000 (1989) auf knapp 100.000 (2007). Erst seit der Jahrtausendwende blüht die Stadt durch Impulse aus der Kreativwirtschaft, der digitalen Ökonomie und der Start-Up-Szene langsam wieder auf. Ehemalige Industrieareale erwachen mit neuen Nutzungen zu neuem Leben. In Teilen des ehemaligen Kabelwerks Oberspree entsteht beispielsweise ein neuer Campus der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW Berlin).
Berlin entwickelt sich nach und nach zu einer europäischen Metropole für die Kreativ- und Kulturwirtschaft und zu einem Zentrum der Gründerszene in Europa. Vielfach nutzen diese neuen Pioniere die historischen Bauten der „Gründergeneration“, die den Weltruhm Berlins als Elektropolis begründete. Der Industriecharme verfallener Gebäude zieht außerdem die Musik-Szene an. Zahlreiche Clubs ziehen in ehemalige Fabriken, Brauereien und Kraftwerke.
Mehr Informationen zum Thema »Kommunikation und Medien« sowie zu den Schauplätzen KulturBrauerei Berlin und Pfefferberg-Brauerei.
- 2000
Das Erbe der Industriekultur
Seit über 250 Jahren ist Berlin Industrie- und Forschungsstandort. Unternehmen wie KPM und Siemens produzieren noch immer in der deutschen Hauptstadt. Alteingesessene Forschungseinrichtungen wie die Berliner Hochschulen und Institute betreiben Spitzen-Forschung. Orte der Industriekultur verbinden Geschichte und Gegenwart Berlins. Das denkmalgeschützte Areal rund um den Gasometer Schöneberg ist seit 2008 ein Experimentierfeld für Energie, Mobilität und Nachhaltigkeit.
Noch Ende der 1990er-Jahre liegen viele einst imposante Industriegebäude brach. In den 2000er-Jahren rücken sie dann in den Fokus der Investoren. Die Gentrifizierung verändert das Stadtbild und führt zu explodierenden Mietpreisen. Schicke Lofts in alten Fabriken locken an die Spree. 2002 zieht das Label Universal Music Group in das ehemalige Eierkühlhaus von 1929 an der Oberbaumbrücke. An dieser Schnittstelle zwischen Friedrichshain und Kreuzberg versammeln sich in den folgenden Jahren die Größen der Musik- und Medienindustrie. Die sogenannte „Mediaspree“ ist einerseits ein Gewinn für den Wirtschaftsstandort Berlin. Andererseits entstehen luxuriöse Immobilien, die der Berliner Wohnungsnot wenig Abhilfe schaffen.
Ob aufwendig saniert oder halb verfallen, Industriekultur ist an jeder Ecke in Berlin zu finden.
Ehrenamtliche Vereine arbeiten an neuen Nutzungskonzepten. 2020 erhalten die Dampflokfreunde Berlin e.V. 8 Millionen Euro Fördergelder für den denkmalgerechten Umbau des Bahnbetriebswerks Schöneweide zu einem Bildungs- und Begegnungszentrum. Sie setzen wie viele andere Vereine Industrieanlagen sowie Gebäude in Stand, machen sie für die Öffentlichkeit zugänglich und vermitteln so die Industriegeschichte Berlins.
Viele Schauplätze der Industriekultur sind bereits seit einigen Jahren in nachhaltige Konzepte eingebunden und besuchbar. Das ehemalige Wasserwerk Teufelssee ist heute das Naturschutzzentrum Ökowerk Berlin e.V. Die Stiftung Pfefferwerk vereint unter ihren Dächern auf dem ehemaligen Brauereiareal Pfefferberg soziale sowie kreative Projekte.
Das Erbe der Industriekultur Berlin lässt sich übrigens auch mit dem Rad oder zu Fuß erleben.
Entdecken Sie mehr Informationen zum Thema »Forschung und Innovation« sowie zu den Fahrradrouten der Industriekultur.